THGA: Energie aus Altdeponien

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Drei Männer geben Gas

Forscher der Technischen Hochschule Georg Agricola haben ein Verfahren entwickelt, um im Inneren stillgelegter Mülldeponien die Gasbildung zu reaktivieren und so langfristig Energie zu gewinnen.

Wenn Frank Otto und Jürgen Kanitz Feldforschung betreiben, werden sie oft von einem großen Team begleitet: Mitarbeitende, Studierende und im Idealfall einem Forschungspartner, der schweres Gerät zur Verfügung stellt. So ist es auch an einem Sommertag in Bochum-Langendreer. Der Geotechniker Otto und der Diplom-Chemiker Kanitz wollen mit einem neu entwickelten Bohrgerät des Forschungspartners Daniel Studer von Studersond aus der Schweiz tief ins Innere der Altdeponie Baroper Straße. Dort liegt vor Jahrzehnten aufgetürmter Hausmüll, in den 1970er-Jahren wurde die Deponie geschlossen.

Otto und Kanitz lassen in die stillgelegte Deponie hineinbohren, um die Aktivitäten im Inneren nochmal anzukurbeln. Denn in den Tiefen des Mülls, wo Bakterien organisches Material zersetzen, entsteht Deponiegas. Bisher wurde das Gas bis zu 40 Jahre nach Schließung der Deponien genutzt, um Energie zu gewinnen. Otto und Kanitz haben aber ein Verfahren entwickelt, das die Gasbildung reaktiviert. "Auf bestehenden oder in der Nachsorge befindlichen Deponien wird bereits Gas abgesaugt und verwertet", sagt Otto. "Hier sind wir allerdings auf einer Fläche, die per Gesetz eine Altlast darstellt." Und aus dieser Last soll nun ein Gewinn werden. Denn am Ende wollen sie das Methan aus der Altdeponie nutzen, um Energie zu gewinnen – damit der Sicherungsaufwand für die Stadt geringer wird und noch weniger Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen.

Die Forscher errichten in Bochum-Langendreerdarin tiefenverfilterte Gasbrunnen. Aufgabe des Umweltamtes der Stadt Bochum ist, das Gas im Inneren zu kontrollieren und daran zu hindern, in die Nachbarbebauung zu entweichen. Denn das Gas ist giftig und brennbar bis explosiv, das Innere alter Deponien hat es in sich. Kohlendioxid (CO2), Stickstoff, Methan (CH4): Bakterien produzieren diese Gase, wenn sie organisches Material zersetzen. Vor allem der größte Teil des Deponiegases, das Methan, ist für die Forscher interessant. Zwar ist es einerseits eines der stärksten Treibhausgase, etwa 28 Mal klimaschädlicher als CO2. Andererseits ist es hochenergetisch und eine wichtige Quelle für die Strom- und Wärmegewinnung. Die bei der Forschungsbohrung gesetzten Gasbrunnen dienen den Wissenschaftler*innen und Studierenden der THGA nun dazu, zu erforschen, wie sie das Gas aus der Tiefe bestmöglich gewinnen können, um Energie zu erzeugen und diese in Wärme und Strom umzuwandeln.

Forschungsbohrung: Wir kann die Energie aus der Altdeponie in Bochum-Langendreer genutzt werden?

THGA-Forschende wollen Deponiegas fördern

Otto, Kanitz und ihr Team forschen schon länger am Thema. Die Baroper Straße ist neben den Altdeponien "An der Holtbrügge" in Weitmar und Blücherstraße in Wattenscheid die dritte, an der sie tätig sind – in enger Kooperation mit der Stadt Bochum. Die Kontrolle der Altdeponien ist Aufgabe der Kommune. Heißt: Das Umweltamt ist dafür zuständig, den Gasaustritt zu messen und die Umgebung samt angrenzender Wohnbebauung zu sichern. Für Messungen und Kontrollen nutzen die Mitarbeitenden bereits vorhandene Gasbrunnen überwiegend im Randbereich der Altdeponien. "Der Betrieb dieser Gasüberwachungsbrunnen ist sehr teuer, schließlich laufen die rund um die Uhr", sagt Michael Finken vom Umweltamt der Stadt Bochum.

Als Kanitz und Otto sich bei Finken meldeten und von ihrer Idee berichteten, die dauerhaft laufenden Elektromotoren der städtischen Prüfgeräte und Sauganlagen mit Energie aus Deponiegas zu betreiben, wurde er neugierig. Schließlich kündigte THGA-Professor Otto an, die gewonnene Energie aus dem Inneren der Deponie sei nicht nur günstiger, sondern auch keine zusätzliche Belastung fürs Klima. So setzte sich Finken seitens der Verwaltung dafür ein. Die Stadt gab die Altdeponien der THGA zu Forschungszwecken frei. "Das sind wertvolle Synergieeffekte zwischen Stadt und Wissenschaft", sagt er.

Das neu entwickelte Bohrgerät von Studersond aus der Schweiz, der tief ins Innere der Altdeponie vordringt.

Installation von THGA-entwickelten Förderbrunnen

Jahrzehntelang gingen Expert*innen davon aus, dass die Prozesse in Mülldeponien nach circa 30 Jahren abgeschlossen seien. Doch die Proben zeigten den Forschenden etwas anderes. "An der Baroper Straße ist die Organik auch nach 50 Jahren noch nicht vollständig abgebaut. Die Deponien sind zu kalt für die Aktivitäten der Bakterien und das nicht abgesaugte Gas blockiert zusätzlich deren Aktivität", sagt THGA-Professor Otto. Nach seinen Berechnungen wird es in Langendreer noch einmal mindestens 30 Jahre dauern, bis die Altdeponie tatsächlich weitgehend gasfrei ist. "Wenn wir die Bedingungen im Deponiekörper optimieren, also die Bakterien beispielsweise mit Wärme oder Sauerstoffentzug triggern, können wir die Gasproduktion auch noch nach Jahrzehnten ankurbeln und viele Altdeponien nutzen, um sie in Wärme oder Strom umzuwandeln", ergänzt er. 

Ist die Altdeponie-Energie im Alltag realistisch?

Neue Erkenntnisse, neue Technik: Statt wie bisher durchgehend geschlitzte Rohre in den Boden einzusetzen, lassen sie nun ein bis zu einer bestimmten Tiefe geschlossenes Rohr ein, bei dem sich lediglich im unteren Bereich ein Filter befindet. Die THGA legt derzeit mehrere Förderbrunnen an, um das Deponiegas optimal abzusaugen, und stellt stationäre Stromgeneratoren auf, um die Stromerzeugung auf den Deponien voranzutreiben. "Wir könnten auch größer denken", sagt Kanitz. "Zwar ist es zu aufwendig, einzelne Wohnhäuser in der Nähe so auszurüsten, dass sie die Energie der Altdeponie nutzen können. Aber nur wenige hundert Meter von der Deponie 'An der Holtbrügge' entfernt gibt es ein größeres Pflegeheim. Bei dem wäre es sicherlich machbar, es klimaneutral zu versorgen."

Doch trotz aller Forschungserfolge müssen noch weitere Hürden genommen werden. "Die Anforderungen an die Projekte sind enorm groß", sagt Otto. "Wir arbeiten mit giftigen und leicht entzündlichen Gasen, da geht es insbesondere um Aspekte der Arbeitssicherheit und um strenge gesetzliche Regelungen, zum Beispiel den Umweltschutz bei Deponien in Waldgebieten." Auch ist nicht jede Altdeponie geeignet. Damit das Triggern der Bakterien zu mehr Gasproduktion führt, muss die Anlage eine Mindestgröße, Mindesttiefe und eine Mindestmenge an reaktionsfähiger Organik aufweisen. Außerdem darf sie nur wenig Fremdmaterial enthalten – und gerade die älteren Deponien sind oft voll davon, weil damals die Mülltrennung nicht so streng passierte. "Je mehr Bauschutt und Boden in einer Altdeponie steckt, desto weniger können wir sie energetisch nutzen", sagt Otto.

Der Forschungsbohrer in Aktion

Win-Win-Win-Situation im Ruhrgebiet

Die Weichen sind noch nicht gestellt, für die Umsetzung in der Praxis sind noch weitere Investitionen nötig. Aber die Forschung geht weiter voran. "Was das Ganze ausmacht, ist die Offenheit, mit der wir uns alle begegnen", sagt Jürgen Kanitz. "Es gibt Hürden und Herausforderungen bei der Umsetzung der Ideen, aber das Gute ist, dass wir diese zum Beispiel seitens der Stadt oder den Stadtwerken genau gespiegelt bekommen und uns die Möglichkeit gegeben wird, damit umzugehen." Das sei sowieso das Besondere am Ruhrgebiet – die Anpackmentalität, der Macher*innen-Geist. Finken ergänzt: “Im Ruhrgebiet gibt es seit Jahrzehnten Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Wir wissen, wovon wir reden – und das ist am Ende elementar, um neue Lösungen voranzutreiben.”

Prof. Frank Otto (2.v.l.), Jürgen Kanitz (4.v.l.) und Michael Finken (5.v.l.)

Zu den Personen

Ein eingeschworenes Team

Frank Otto, Jürgen Kanitz und Michael Finken arbeiten seit rund 20 Jahren zusammen. Gemeinsam haben sie viele Projekte umgesetzt. Sie sind sich einig: Das besondere an ihrer Zusammenarbeit ist, dass sie drei verschiedene Disziplinen vereinen und dabei sehr freundschaftlich miteinander umgehen.

Der Geologe Frank Otto

Der gebürtige Gelsenkirchener ist auch beruflich im Ruhrgebiet verwurzelt. Bevor er als Professor an der ältesten Hochschule in der Metropole Ruhr startete, half er beispielsweise vor einigen Jahren bei der Bekämpfung von Haldenbränden. Er hat sich zudem mit Methanausgasungen aus dem Bergbau beschäftigt und Verfahren entwickelt, um neue Gebäude preisgünstig zu sichern. "Wir finden hier in der Region Lösungen, die weltweit gefragt sind", sagt er. Deshalb arbeitet er an der THGA auch gerne mit Studierenden aus Kamerun, Syrien, Pakistan, Sri Lanka oder, wie zuletzt, aus der Ukraine und Myanmar zusammen.

Der Chemiker Jürgen Kanitz

Seit 1986 ist er für die Stadt Bochum aktiv. Kanitz hat den Kontakt zwischen der THGA und der Kommune hergestellt. Der 72-Jährige ist schon lange dabei, macht alle Forschungsarbeiten und noch weitere Projekte, wie er selbst sagt, "nicht mehr nur aus ökonomischen Gründen". Seine beiden Kollegen bezeichnen ihn als "Vollblut-Entwickler mit Entdeckergeist". Zum Studium ist Kanitz damals aus Ostwestfalen nach Bochum gezogen – und nie wieder gegangen. Es ist das Gefühl von Heimat, das ihn von Anfang an gehalten hat.

Der Bauingenieur Michael Finken

Er arbeitet seit rund 30 Jahren in der Bodenschutzbehörde der Stadt Bochum. Die Forschung mitzubetreuen und zu ermöglichen, ist sein Steckenpferd. “Ich kenne Jürgen und Frank schon lange und weiß, welches Potenzial sie haben”, sagt er. Finken übernimmt gerne die Rolle des Übersetzers: Er fängt die Visionen der Tüftler ein und bringt sie zu Papier. "Ich versuche, die Verwaltung zu nutzen, um sinnvolle Arbeit zu leisten", ergänzt er. Der gebürtige Bochumer und passionierte Radfahrer schätzt in seiner Freizeit die vielen Radrouten im Ruhrgebiet – unter anderem auf den alten Bahntrassen.

Fotos: THGA